Zwei Erzählungen

Bilder

Vom Dorf kamen Leute die Straße herauf. Zwischen den Häusern war erst eine undeutliche Bewegung auszumachen, dann wurden drei Gestalten erkennbar, die sich auf der Landstraße nach oben arbeiteten.
Hanna beobachtete die Wanderer nur einen Moment lang, ehe sie aufstand, das Geschirr vom Tisch nahm, den Stuhl zurechtrückte und von der Terrasse ins Haus ging, ohne den Blick noch einmal abwärts zu richten, durch den langgezogenen Flur ging und in die Küche. Dort stellte sie das Geschirr ab, schob einen noch nicht geleerten Karton beiseite und blieb unentschlossen stehen, bis sie von draußen die Stimmen der Wanderer hören konnte. Im Vorbeigehen sah einer von ihnen zum Fenster hin.
Später durchquerte sie den schmalen Streifen des Vorgartens, um zum Auto zu gelangen, wandte sich beim Gartentor um und betrachtete die Grünfläche. Die früheren Bewohner hatten das Gras an der Vorderseite des Hauses gemäht, durch den heißen Sommer war es an vielen Stellen aber trocken und braun geworden. Keinerlei Blumen waren gepflanzt worden, nur am Zaun wuchsen vereinzelt ein paar verwahrloste Stauden.
Sie stellte sich vor, wie der Garten im Frühling aussehen könnte: ein bunt leuchtendes Band um das Haus herum, wie eine schützende Aura, die nichts Negatives durchlassen würde.
Zu ihren Füßen lag das Dorf ohne einen Laut. Sie startete das Auto, ließ die Häuser hinter sich und fuhr die wenigen Kilometer zum Einkaufszentrum der Stadt. Als sie dort über den Parkplatz ging, bemerkte sie beiläufig, dass jemand sie erkannte, an der Art des Blicks, der sich veränderte, sobald sie gesehen wurde. Allzu oft kam es nicht vor, dass fremde Leute wussten, wer sie war. Manche mochten ihren Namen kennen, das Gesicht dazu aber nicht.
Zurück im Haus, empfand sie es als leer. Sie drückte auf den Einschaltknopf des Fernsehers und wechselte von Kanal zu Kanal, von den Bildern einer Nachrichtensendung zum Konzert einer Jazzsängerin, und obwohl Hanna die Musik sonst gefiel, drosselte sie jetzt die Lautstärke. Selbst Klänge, die sie mochte, waren manchmal zu viel, und selbst das Leise war manchmal zu laut. Sie schaltete das Gerät wieder aus. Sie fühlte sich müde, obwohl sie lange geschlafen hatte, und sie setzte sich hin und schloss die Augen. Vielleicht vertrug sie gegenwärtig nur die Stille, so als hätte sich ihr Inneres über die Jahre zu viel aufgeladen, und nur Stille könnte Platz schaffen für Neues.
An der Tür klingelte es, ein überraschend feiner Ton, den Hanna zum ersten Mal hörte. Die Tür hatte keinen Spion, aber durchs Fenster sah sie ein Auto, dessen Farbe und Form sie an jemanden denken ließ. Sie öffnete die Tür und sah in Leos Gesicht.
Er grinste.
„Dieser Bursche hier mag mich nicht.“
Er neigte das Orangenbäumchen, das er in der Hand hielt, ein wenig hin und her. Zuletzt hatte sie es in seiner Wohnung gesehen, ein Geschenk zum Einstand.
„Nettes Haus!“, sagte er. „Die Galerie hat mir die Adresse gegeben, übrigens.“
Er hörte auf zu grinsen.
„Ernsthaft, kannst du dich um den hier kümmern? Er verliert schon Blätter. Ich ruiniere den garantiert.“
Hanna sah von ihm zu den Blättern und der verschrumpelten Frucht, die an einem der Äste hing, und nahm den Topf entgegen wie ein Kleinkind, auf das gerade niemand aufpasste.
„Ich werde dich nicht hereinbitten“, sagte sie. „Ich habe viel zu tun.“
Sie stellte das Bäumchen in der Küche ab und setzte sich auf die Eckbank am Tisch. Es brauchte einen Platz zum Überwintern, in einem kühleren Raum und nicht zu dunkel. Später würde sie durchs Haus gehen und danach suchen. Armes Bäumchen, dachte sie. Es gerät an Leo, der es nicht wahrnimmt. Sie stand auf und ging ins große Zimmer zur Staffelei. Die Leinwand war weiß seit Tagen, und wieder saß sie davor ohne einen Impuls, eine Farbe zu wählen und sie an einer bestimmten Stelle, in einer bestimmten Form aufzubringen. Stattdessen erinnerte sie sich an Leo, an ihn in der alten Wohnung, an das Stiegenhaus, durch das sie immer nur über sechs Stufen ins Hochparterre gegangen war, doch dieser kurze Weg hatte gereicht, um die veränderte Atmosphäre zu spüren, seit Leo häufig zu Gast war.
Nicht nur die Stimmung änderte sich. Hanna wurde nur mehr selten angesprochen, seit Leo ein- und ausging. Es gab abfällige Blicke und ein Verstummen von Gesprächen, wenn sie dazukam. Irgendwann kam ein Tisch abhanden, den ein Bewohner im Parterre abgestellt hatte, damit jemand ihn dort abholen konnte. Ein Zettel wurde ausgehängt, um den Verbleib aufzuklären, ohne Ergebnis. Als Hanna einmal aus der Wohnung trat, versuchten zwei der Nachbarinnen, die gerade dort standen, einen Blick hinein zu erhaschen. Sie drehten die Köpfe und reckten die Hälse, und die Verdächtigung war wie aus der Luft greifbar. Als sie Hannas Gruß erwiderten, lag im Tonfall etwas Schnippisches. Die Blicke wurden jetzt noch unfreundlicher. Sogar die junge Frau, die über ihr wohnte und sich oft mit ihr unterhalten hatte, begegnete ihr distanziert.
Die Leute glauben, was ihnen gerade gelegen kommt, dachte Hanna, und es war nicht das erste Mal, dass sie das feststellte.
Leo bemerkte von all dem nichts. Leo war dreißig und Softwareentwickler in seiner eigenen Firma. Er hatte sie in einem Café angesprochen, ohne ihre Arbeit zu kennen, so wie es seine Art war, Frauen anzusprechen, charmant und unterhaltsam und überzeugt von seiner Anziehungskraft.

Jetzt läutete das Telefon. Hanna erhob sich von ihrem Platz und ging hinaus, fast mechanisch, als wäre das Telefon ein fremder Gegenstand, der nicht ihr gehörte. Dann freute sie sich, Karos Stimme zu hören.
Wie es ihr gehe, fragte die andere, und dann gratulierte sie nachträglich zum fünfundvierzigsten Geburtstag. Sie werde noch das Glas auf sie erheben, sagte sie. Dann erzählte sie von Neuseeland und den Studenten und Vorlesungen und dass sie sich einen Hund zulegen wolle, falls sie ihn in die Arbeit mitnehmen könne.
„Ich bin umgezogen“, sagte Hanna. Karo wirkte erstaunt. Ob ihr das nichts ausmache, so allein in einem Haus. Die Ruhe tue ihr gut, erwiderte Hanna. Sie überlegte einen Moment, ob sie über Leo noch reden wollte, hatte sie doch mit ihm abgeschlossen und das auch zu Karo gesagt. Dann erzählte sie doch, Leo habe gerade ohne Ankündigung ein Orangenbäumchen vorbeigebracht, das bei ihm verrottet wäre. Sie erzählte es in einem Tonfall der Belustigung, so wie man über jemanden amüsiert den Kopf schüttelt, der einem nichts bedeutet.
Dann sagte Karo, sie gehe jetzt schlafen, und vielleicht könnten sie das nächste Mal über das Internet telefonieren oder e-mailen.
„Eine gute Zeit“, sagte Hanna, dann war Karo fort.
Statt sich wieder vor die Leinwand zu setzen, ging Hanna in die Küche, nahm das Bäumchen vom Küchenboden und trug es erst in den Keller, dann auf den Dachboden. Ihr fiel wieder ein, wie Leo über andere geredet hatte, als könnte er jeden Menschen sofort durchschauen. Er glaubte, alles zu wissen, nach einem Eindruck, einem Gespräch, und Hanna forschte in seinen Worten, ob nicht auch Unsicherheit herausklang, die er zu kaschieren versuchte, aber nein, er schien von seinen Ansichten überzeugt zu sein.
Das kenne er schon, sagte er, als der neue Bekannte ein Treffen abgesagt hatte. Ein unzuverlässiger Mensch, mit dem man nichts verbindlich ausmachen könne. „Da kenne ich mich schon aus“, war der andere Satz, an den sie sich erinnerte. Er betraf die neue Kundin, die für Leo kleinlich und mit nichts zufrieden war, nachdem sie einen Vorschlag abgelehnt hatte.
„Du weißt doch nicht, ob das immer so ist.“
Hanna dachte, sie konnte ihm etwas beibringen über das Leben und über die Menschen und darüber, dass ein Kennenlernen länger dauerte als in seiner Vorstellung. Sie wünschte sich, ihn einmal nachdenklich zu machen, ob seine Schlussfolgerungen richtig waren.
Dennoch gab sie den Gedanken bald auf, sich ihm zu öffnen und die Beziehung als etwas zu sehen, das tiefer gehen konnte. Wenn sie etwas erzählte, hörte Leo oft gar nicht zu oder hatte sich seine Meinung ohnehin schon vorher gebildet. Sie fragte sich, was die Beziehung für ihn war, eine Erfahrung, eine Station auf der Reise, und sie fand sich mit dieser Möglichkeit ab. Sie sah ihn an, wie er bequem dasaß auf ihrem Polstersessel, und auf einmal reichte das, was sie an ihm gemocht hatte, nicht mehr aus. Er machte ein enttäuschtes Gesicht und wirkte dabei wie ein Zehnjähriger, der zum Geburtstag ein bestimmtes Geschenk nicht bekommen hat.
In den Wochen danach traf sie die Entscheidung, diesen Lebensort zu verlassen. Die Atmosphäre im Haus, die kaum verändert war, entzog Energie, und sie wollte weg vom geballten Zusammenleben in der Stadt, vielleicht weg von den Menschen selbst.

Sie hatte auf dem Dachboden, wo durch eine Luke genug Licht hereinfiel, einen Platz für das Bäumchen gefunden, und stellte den Topf auf dem staubigen Holzboden ab. Während sie die Treppe hinunterging, begriff sie etwas. Leo würde anderen so nicht nahekommen. Er stellte sein vorschnell gemaltes Bild zwischen sich und die anderen und sah sie dadurch nicht mehr. Dabei hatte diese Haltung nichts mit seinem Alter zu tun. Hanna war jüngeren Menschen begegnet, die mehr Reife hatten. Dinge wie Reife oder Weisheit standen in keiner Beziehung zum Alter, nicht einmal zu Intelligenz oder Bildung.
Unten ging sie vorbei an halb geleerten Kartons, vorbei an der weißen Leinwand und zum Sofa, das an der Fensterseite des Zimmers stand. Sie zog die Vorhänge zu und legte sich hin. Nur eine Stunde wollte sie nichts sehen oder hören, dann galt es Kartons auszuräumen und Plätze für Dinge zu finden und ein Bild zu malen.
Wieder läutete die Türglocke. Sie richtete sich auf und horchte nach draußen, und die Glocke läutete beharrlich ein zweites Mal.
Draußen stand ein Mann in einer hellblauen Jacke, wie sie einer der Wanderer vom Vormittag getragen hatte. Er mochte in ihrem Alter sein. Vielleicht war es jener, der zu ihrem Fenster hingesehen hatte. Die Gesichter waren weit weg gewesen, und sie hatte sie nicht in Erinnerung behalten.
„Ich wollte Ihnen sagen, nächste Woche wird der Kanal gereinigt“, sagte der Mann.
„Es wird noch angeschrieben. Aber ich komme gerade vorbei und wollte es Ihnen sagen.“
Er hielt den Blick auf ihr Gesicht geheftet, während er redete, wie vorbereitet und für die ruhige Umgebung etwas zu laut.
„Sie können das Auto dort stehenlassen.“
Er betrachtete sie unverändert mit großen Augen und schien nach weiteren Informationen zu suchen, die er mitteilen konnte.
„Fred“, sagte er und streckte ihr die Hand hin.
„Hanna Meier.“
„Schon eingelebt?“
Sie lächelte.
„Ich bin gerade eingezogen.“
„Wenn du vorbeischauen magst, Hans feiert heute seinen Geburtstag. Im Zelt auf der Wiese.“
Er machte eine Handbewegung in Richtung Dorf.
„Wenn ich Zeit habe“, sagte Hanna und wusste, dass sie nicht hingehen würde.

Am Abend sah sie vom offenen Fenster aus hinunter auf das Dorf. Das Zelt leuchtete hinter den Häusern hervor, und sie konnte verschwommen das Stimmengewirr der Leute hören. Als sie das Fenster schloss, war es augenblicklich wieder still.
Sie dachte an Menschen, die sich die Zeit nahmen, andere kennenzulernen. Sie dachte an Menschen, die sich selbst kannten und die Fähigkeit besaßen, andere zu erkennen, und wenn es immer nur kleine Stücke sein konnten. Sie dachte an Menschen, die fähig waren, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden, oder, wenn das nicht möglich war, Wissen von Nichtwissen.
Bevor sie schlafen ging, stand sie vor der Leinwand und versuchte, etwas darauf wahrzunehmen, ein Bild, das längst irgendwo sein konnte in verborgenen Sphären, sie musste nur danach greifen, es war da, um ins Sichtbare geholt zu werden.
Dann lag sie im Dunkeln und sah den umherwandernden Gedanken zu.
Im Morgengrauen stand sie auf, zog sich etwas Warmes an und ging langsam zum Arbeitszimmer. Die Vorstellung eines Ganzen formte sich, und als sie ins Zimmer trat, konnte sie das Bild vor sich sehen. Sie wählte die Farben aus und begann zu malen. Sie legte den Pinsel erst weg, als die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont stiegen und das Licht im Raum veränderten.

***

Am Fluss

Die meisten Parkbänke waren leer. Nur oben beim Gewächshaus saßen ein paar Leute, an diesem kühlen, aber sonnigen Tag im April. Vera suchte sich eine Bank aus und setzte sich. Ohne Zögern packte sie aus der Umhängetasche einen Ringblock aus, kramte im Seitenfach nach dem Kugelschreiber, schlug eine leere Seite auf und begann zu schreiben.
Etwa eine Stunde später, nachdem sie alles durchgelesen hatte, verließ sie den Garten. Zu Fuß gelangte sie rasch zum Flussufer, wo das Fahrrad stand. Es war nicht windig an diesem Tag. Es war, als wollten Wind und Wolken ihr Unternehmen mit Wohlwollen unterstützen. Sie fuhr auf dem Radweg los, am Fluss entlang, solange der Weg es erlaubte. Sie fuhr weder schnell noch langsam, nahm einige der entgegenkommenden Radfahrer wahr, nahm Spaziergänger wahr und ein paar Jogger und Hunde und dachte an die geschriebenen Zeilen, daran, ob etwas fehlte, aber es fiel ihr nichts ein.
Von einem Stück Straße wechselte sie wieder auf den Radweg, jetzt vorbei an Feldern, Wiesen und am Tower des Flughafens. Ein Flugzeug landete in einiger Entfernung. Schließlich führte der Weg wieder zum Fluss, und sie stellte das Rad ab, dort, wo ein Drahtzaun Weg und Rollfeld voneinander trennte.
Auf den trockenen Flusssteinen verlangsamte sie ihr Tempo. Ein liegender Baumstamm bot Platz zum Sitzen, und jetzt saß sie erst einmal da und betrachtete das strömende Wasser. Sie erwartete nicht, dass sie sich leichter fühlen würde, dass ein Ritual wie dieses große Veränderungen im Gefühlsleben bewirkte. Nicht alle Gefühle waren gerade zugänglich. Dennoch hatte sie alles aufgeschrieben, was ihr eingefallen war. Wenn sie wieder vertrauen wollte, so empfand sie es, war ein Loslassen nötig.
Sie nahm den Ringblock aus der Tasche und trennte die zwei beschriebenen Blätter heraus. Noch einmal sah sie die Zeilen durch, all die alten Verletzungen, die noch unvergessen waren. Dann legte sie die Blätter übereinander und faltete sie zu einem Schiff. Sie ging zum Ufer, stieg auf einen breiten Stein und setzte das Schiffchen auf der Strömung ab. Sie sah ihm nach, wie es davongetragen wurde, erst der weißen Spitze, die sich tapfer aufrecht hielt und dann zur Seite kippte, dann dem verschwommenen hellen Fleck, der unter Wasser treibend rasch aus ihrem Blick verschwand.
Auf dem Heimweg trat sie kräftiger in die Pedale. Die Lungen füllten sich mit Luft. Sie atmete ein und aus, ein und aus. Sie nahm die Gedanken wahr, die unermüdlich ihren Dienst taten und die gelenkt werden konnten und zum Ausdruck gebracht. Sie nahm Gefühle wahr, die sie in ihrem Fließen an ihr Lebendigsein erinnerten. Sie nahm wahr, wie die Sinne die Welt erfassten, wie alles zusammenwirkte und bereitstand. Für wenige Augenblicke gab es nur das Sein, weder gut noch schlecht, weder vergangen noch zukünftig, es existierte die bloße Gegenwart und sie in ihr.

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