Leonie sucht

Leonie hatte von ihrer Großmutter zu Anlässen stets sorgfältig ausgesuchte Geschenke bekommen, ein dickes Kochbuch, ein Schreibset, einen selbstgestrickten flauschigen Schal. Wenn sie sie besuchte in der anderen Stadt, anstatt zu schreiben oder anzurufen, gab es Eistee im Sommer und Früchtetee mit Zimt im Winter. Sie saßen auf der Terrasse oder vor dem Kamin, wo zwei Katzen es sich ebenfalls bequem machten, und die Großmutter erkundigte sich nach Leonies Leben.
Umso überraschter war Leonie, als sie nach dem Tod der Großmutter, den man zuletzt kommen gesehen hatte, ein Erbe entgegennahm, das leicht überdimensioniert wirkte im Vergleich zur bescheidenen Zwei-Zimmer-Wohnung, in der die Großmutter gelebt hatte.
Sie kehrte zurück in ihr WG-Zimmer, in dem gerade genug Platz war für ein Schlafsofa, für Kleiderschrank und Bücherregal, Schreibtisch und Fernseher und das E-Piano, das durch die Kopfhörer zu jeder Zeit nachbarschaftsverträglich war. In einem Haus, dachte sie, wäre das mein Arbeitszimmer, und ein Flügel würde im Wohnzimmer stehen.
Wollte sie hier überhaupt weg? Würde sie dieses Zimmer vermissen, diese Altbauwohnung mit der nostalgischen Gemeinschaftsküche, die drei Mitbewohner?
Die Großmutter hatte ihr die Möglichkeit geben wollen, sich ihre Wünsche zu erfüllen. Über diese Wünsche musste sie sich jetzt klarwerden. Lieber eine Wohnung für sich allein? Über eine Klavierstudentin und einen Flügel würden sich die Nachbarn womöglich wenig freuen.
Ein Haus mit einem kleinen Garten hatte sie sich manchmal ausgemalt. Sie schloss die Augen und ging durch helle, hohe Räume, freundlich eingerichtet und nur dazu da, sie in ihrem neuen Zuhause aufzunehmen. Sie schlug die Augen wieder auf. Etwas fehlte in dem Bild.
Sie würde ihr Studium abschließen, während sie in diesem Haus wohnte. Sie würde unterrichten und Konzerte spielen, und bei all dem sah sie sich allein. Im Haus war auch noch Platz für einen weiteren Menschen, genauer gesagt, für einen Mann.
Nach drei Monaten der Suche kaufte sie ein Haus am Stadtrand und lud die WG-Bewohner zum Einstand ein. Sie behielt ihren Wunsch nach einem zweiten Bewohner des Hauses für sich.
Sie wusste von den Partnerbörsen im Internet, aber sie hatte wenig Lust auf reihenweise Treffen mit Enttäuschungen, sodass sie es lieber zuerst anders angehen wollte.
Also ging sie aus. Sie saß mit einer Freundin in Lokalen an der Bar, was häufiges Angesprochenwerden mit sich brachte, aber keinen Mann nach ihrer Vorstellung. Sie tanzte in Diskotheken, die nicht Mussorgski spielten, was ihr nichts ausmachte. Fündig wurde sie beim dortigen Angebot an Männern nicht.
Sie wurde ein bisschen frustriert, ließ die Suche eine Weile bleiben und registrierte sich schließlich auf einer Plattform im Internet.

Der erste, den sie traf, hieß Paul und hatte unglaublich nette Mails geschrieben. Liebenswürdig, offen, so war er Leonie erschienen, aber beim ersten Treffen war er meist schweigsam und ernst. Sie fand ihn weniger ansprechend als in seinen Mails.
Sie erzählte von ihren Abenden im Gewühl der Nachtschwärmer und versuchte, damit die Stimmung aufzulockern, mit mäßigem Erfolg.
„Du bist anders als in deinen Mails“, sagte sie.
„Ich glaube nicht“, sagte er. „Beim Schreiben kann ich lange nachdenken. Das spontane Reden ist eben… es muss einem sofort etwas einfallen.“
Leonie wollte ihm noch eine Chance geben, damit er auftauen konnte. Sie fand es schwierig, sich so schnell ein Bild zu machen, umso mehr von jemand Schweigsamem.
Schon vor dem nächsten Treffen schrieb er ein neues E-Mail, noch umfangreicher als die ersten Mails und offener als beim vergangenen Treffen. Dann trafen sie sich auf Leonies Wunsch hin zum zweiten Mal, und er sprach wieder nicht viel. Leonie hatte den Gedanken, dass er eher ein Brieffreund sein könnte als ein Partner. Doch erst beim vierten Treffen, nachdem sie noch versucht hatte, ihn zu mehr Gesprächigkeit zu locken, indem sie auf seine langen E-Mails Bezug nahm, sagte sie ihm diesen Gedanken. Er sah nachdenklich drein, vielleicht auch gekränkt. Es war das letzte Treffen der beiden, weil Leonie keines mehr vorschlug. Allerdings kam noch ein E-Mail von ihm, in dem er zu erklären versuchte, dass er schriftlich kein anderer Mensch sei als im Gespräch.
Inzwischen schrieb Leonie auf der Plattform jemand anderem. Weil sie jetzt wusste, dass Mails nicht viel aussagen, wollte sie ihn lieber früher treffen als später. Dann, als sie im Café saßen, kaute er Kaugummi, was Leonie irritierte und für das Gespräch unaufmerksam machte. Sie fand ihn auch nicht anziehend, und es sollte das einzige Treffen zwischen ihnen bleiben.
Während sie ihr neues Zuhause einrichtete und den Flügel in Empfang nahm, meldete sich im Internet jemand bei ihr, der warmherzige Mails schrieb und für ihr Treffen ein Lokal vorschlug, in das sie selber kaum jemals ging. Er hieß Klaus und studierte Geschichte.
Leonie war zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit dort und setzte sich an einen Tisch an der Wand, von wo sie einen Überblick über das Lokal hatte. Auch neben ihr nahm eine Einzelperson an einem Tisch Platz, ein junger Mann, der sie flüchtig anlächelte und dann die Getränkekarte studierte. „Könnten Sie auf meine Sachen achten?“, fragte er. Leonie nickte, und er verschwand über die Treppe nach unten. In diesen wenigen Momenten hatte sie Gefallen an ihm gefunden, aber sie war ja mit jemand anderem verabredet und er vielleicht auch. Klaus war noch nicht da, als der andere zurückkam und sich fürs Aufpassen bedankte. Leonie schenkte ihm ebenfalls ein Lächeln.
Dann saß Klaus an ihrem Tisch und nicht der andere, was der guten Unterhaltung aber nicht im Wege stand. Er war äußerst kommunikativ, freundlich und machte einen sehr intelligenten Eindruck. Das Problem war: Er war nicht der junge Mann vom Nebentisch. Leonie versuchte, die Sätze zu hören, die dort gesprochen wurden, denn in der Zwischenzeit hatte sich eine Frau dort hingesetzt, die Unterlagen mit Zahlen und Text darauf auspackte und dem anderen zeigte. Leonie gab die Versuche des Mithörens bald auf, erstens, weil es unmöglich war, im Gespräch mit Klaus dann noch konzentriert zu bleiben, und zweitens, weil offenbar nichts oder nur wenig Privates gesprochen wurde. Wehmütig registrierte sie, wie die beiden am anderen Tisch zahlten und aufstanden. Dass der Mann zu ihr „Auf Wiedersehen“ sagte, war nur ein schwacher Trost.
In der Zeit danach machte Leonie das Lokal zu ihrem neuen Lieblingsort. Sie versuchte es auch mit derselben Zeit, zu der sie den Unbekannten dort gesehen hatte. Einmal betrat er gerade das Lokal, als sie es verließ, und sie lächelten sich beide an. Dann wollte Klaus sie wiedersehen. Sie versuchte, ihn liebenswert zu finden, und musste doch die meiste Zeit an den anderen denken, den sie nicht kannte. So hatte sie sich das Online-Dating nicht vorgestellt: Sie wollte jemanden kennenlernen, der außerhalb von all dem stand, während die Chancen für Klaus immer geringer wurden und sie sich innerlich von ihm zurückzog.
Er merkte es und wirkte traurig darüber.
„Triffst du sonst noch jemanden?“
„Nein. Aber ich denke an jemanden.“
„Leonie“, sagte er, „du solltest herausfinden, was du möchtest. Entweder triffst du dich mit mir und vergisst den anderen, oder du versuchst diesen Jemand anzusprechen.“
Leonie war erschrocken über die Losgelöstheit, mit der er sie vor ihre Möglichkeiten stellte. Sie hatte keine Ahnung, was sie dem Unbekannten sagen könnte. Und dann geschah es, als sie das nächste Mal dort war, dass er anfing, mit ihr zu reden, vom Nebentisch aus, an den er sich gesetzt hatte.
„Es ist wieder fast voll“, sagte er. „Sie kommen ja auch oft her.“
„Ja“, sagte Leonie, „aber noch nicht so lange.“
„Neulich war es so voll, dass meine Bekannte und ich wieder gegangen sind.“
Jetzt konnte Leonie weiterfragen. Wohin sie dann gegangen seien, wie es dort gewesen sei, und sie konnte das andere Lokal kommentieren, weil sie es kannte, ja, dort sei es auch ganz nett. Aber es fehlte der Punkt, an dem er hätte sagen müssen, wollen wir uns nicht verabreden, es kam nicht zu diesem Punkt. Jetzt war Leonie mutig und erzählte von der Online-Suche nach einem Partner und dass sie sich hier mit jemandem getroffen hatte. Er war erstaunt und fragte ein wenig, wie ihre Erfahrungen damit seien, und Leonie erzählte von ihren begrenzten Erlebnissen.
Dann kam seine Bekannte, die ihm heute vielleicht auch wieder Unterlagen mit Zahlen darauf zeigen würde. Er lächelte und nickte Leonie noch einmal zu.
Sie musste nachhause, Klavier üben. Sie freute sich so über das kurze Gespräch, dass es ihr wie ein Erfolg vorkam, auf den der nächste Schritt folgen würde.
Auf weitere Anfragen auf der Plattform reagierte sie zunächst nicht, und auch Klaus hatte kein Glück, als er sie anrief. Vielleicht war sie dumm, ihn nicht mit offenen Armen zu empfangen, vielleicht war er der Beste für eine solide Beziehung. Aber der andere ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie konnte Klaus nicht noch länger vertrösten, also beendete sie den Kontakt. Er würde jemanden finden, da war sie sicher. Vielleicht war er ein Verlust, und doch konnte sie nicht anders handeln.
Als sie den anderen das nächste Mal im Kaffeehaus sah, allein und wartend, ging sie zu seinem Tisch – neben ihm war nichts frei – und sagte, sie habe sich gedacht, sie könnte ihn begrüßen, sie stellte sich mit Namen vor und schüttelte ihm die Hand, Ralf, sagte er, und dann fragte sie, ob er mit ihr einmal etwas trinken gehen wolle, hier oder woanders.
Er schien verlegen, trank von seinem Kaffee und suchte nach den richtigen Worten.
„Ich habe zur Zeit viel zu tun“, sagte er. „Nachher muss ich gleich wieder ins Büro und arbeiten. Ich fürchte, ich bin gerade nicht offen für… so einen Kontakt.“
Leonie schrieb ihm ihre Telefonnummer auf. „Für den Fall, dass Sie es sich anders überlegen.“
Er steckte den Zettel in seine Tasche.
Daheim war sie sicher, dass er nicht lange genug überlegt hatte, dass sie ihn überrumpelt hatte mit ihrer Frage. Sie gab ihren Optimismus nicht auf.
Die Wochen vergingen. Sie ging zum Unterricht, übte zuhause, wo sie sich langsam einlebte, aber immer noch das Fehlen eines anderen Menschen empfand. Sie hatte losen Kontakt zu den früheren Mitbewohnern der WG.
Ins Café ging sie nicht mehr so häufig, nicht mehr, um Ralf zu begegnen. Wenn er anrufen wollte, rief er an. Aber die Leere, die sie zuhause empfand, brachte sie auf einen ganz anderen Gedanken. Sie erinnerte sich an die Katzen ihrer Großmutter.

Die Frau im Tierheim führte sie zu Katzen in großen Käfigen, die ihre Besitzer nicht mehr gewollt hatten, und obwohl es so viele waren, fiel ihr die Wahl nicht schwer. Sie entschied sich für eine noch junge, schwarzweiße Katze. Wenn es so leicht wäre, sich in einen Menschen zu verlieben, dachte sie, und dann, beim Ausgang, die Katze im mitgebrachten Korb, kam ihr Ralf entgegen. Er wirkte verblüfft über den Zufall, sie war es ebenso, und sie kamen ins Gespräch. Er erzählte, er wolle sich vielleicht einen Hund zulegen. Dass er dafür ins Tierheim ging, machte ihn für sie noch sympathischer.
Er gab ihr zum Abschied die Hand.
„Ich rufe dich an“, sagte er.
Sie glaubte ihm. Sie konnte ihm ansehen, dass er jetzt anders empfand. Dieser Zufall, diese Gemeinsamkeit, hatten ihn gelockert – oder vielleicht auch überzeugt.
Zuhause fand sie einen Namen für die Katze: Rosi, nach ihrer Großmutter.

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