Freunde, Teil eins


1

Laura zog eine der hölzernen Schubladen heraus und kramte darin. Irgendwo in einer der Flügelmappen war der Zettel mit den Teilnehmernamen und den Adressen. Sie erwischte sofort die richtige.
Als nächstes brauchte sie die Postkarten, die waren eine Lade weiter unten, die sah sie durch und wählte aus, Fotos von Landschaften und Gartenmotiven, wie sie sie oft kaufte, wenn sie an den Läden mit ihren Kartenständern vorbeikam. Sie wählte zehn Karten aus, nicht die Lieblingsstücke, obwohl es so viele Bilder dieser Art gab. Manche erinnerten an die Plätze der Sommerwoche.
Sie nahm sich ein leeres Blatt Papier und schrieb, hallo (sie machte drei Punkte für den jeweiligen Namen), ich denke oft an die Sommerwoche mit euch zurück und schicke einen kleinen Gruß. Wie geht es dir und was macht die Kunst? Laura.
Was sonst konnte sie schreiben? Wenn sie antworten wollten, taten sie es, sonst eben nicht. Sie übertrug den Text auf jede der Karten und fügte in der Anrede die Namen ein, hallo Katrin, hallo Maria, hallo Daniel.
Draußen redete Tobias am Telefon, sie konnte ihn gedämpft hören, während sie die Karten wieder in der Lade verstaute. Natürlich durfte Tobias davon wissen, nur gab es da einen kleinen Impuls in ihr, ein Gefühl der Privatheit, einstweilen jedenfalls. Vielleicht redete er mit Markus, der am vergangenen Abend auch dagewesen war, gemeinsam mit Stefanie. Tobias hatte einmal den Wunsch geäußert, sie möge sich mehr mit Stefanie anfreunden, weil die gemeinsamen Treffen dann ungezwungener, herzlicher wären. Er suchte nach den Worten.
Jetzt klopfte er an die Tür und steckte den Kopf herein, er wollte ins Café und dort etwas essen. Damit war das Für-sich-Sein zu Ende, Tobias wartete auf sie.

Den Weg zum Café waren sie Arm in Arm gegangen in der Anfangszeit, nachdem sie zusammengezogen waren. Jetzt war er vertraut wie die Wohnung, und sie gingen nebeneinander und plaudernd.
Kaum hatten sie sich hingesetzt, grüßte Tobias jemanden. Der andere kam zwischen den vollen Tischen näher und reichte Tobias die Hand. Laura mochte auf Anhieb seine Ausstrahlung nicht, es war etwas Aufgesetztes an ihm, ein unpassendes Lachen und Freundschaftlich-Sein, wie eine Haltung, die er nur in Gesellschaft annahm, um des Eindrucks willen.
Tobias schien ihn anders zu bewerten, er hielt das Gespräch aufrecht und blieb freundlich und aufmerksam.
„Ein Bekannter von Paul“, sagte er, als der andere fort war.
Die Kellnerin stellte die Sandwiches vor sie hin, und Tobias redete von Sardinien, wo er im Sommer hinwollte. Laura sah ihn an und dachte an ihren Platz im Schlafzimmer, den sie verlassen hatte, und wünschte sich, dort zu sein. Während sie Tobias‘ Plänen zuhörte, befiel sie eine Melancholie, von der sie nicht wusste, woher sie kam. Vielleicht war es zu früh im Jahr, um in Sommerstimmung zu sein, und dieses Gefühl gehörte dem Winter an, der einen ins Häusliche flüchten ließ.
Am Abend lagen sie nebeneinander, sein Arm lag träge über ihrem Bauch, ihre Hände streichelten seinen Arm. „Ich überlege mir das mit Sardinien“, sagte sie im Dunkeln, aber er war schon eingeschlafen.

Sie ging zur Arbeit wie gewohnt. Im Pausenraum starrte sie auf ihre Tasche mit den Postkarten, während ihre Kollegin hereinkam, eine halbleere Schachtel mit Keksen von der Kochzeile auf den Tisch legte, an Laura vorbeiging und das Fenster schloss. Laura war nicht aufgefallen, dass sie in der kalten Luft zu frösteln begonnen hatte. Sie wollte die Postkarten nach der Arbeit wegschicken, und sie stellte sich vor, dass vielleicht niemand antworten würde. In diesem Fall würde sie sich vermutlich noch lange fragen, warum. Und vielleicht hatte diese eine Woche für die anderen nicht die Bedeutung, die sie für Laura im Rückblick immer mehr bekam.
Es erschien ihr ein wenig armselig, auf diese Art neue Menschen kennenlernen zu wollen. Sie musste bedürftig wirken wie ein Kind in fremder Umgebung, das um jeden Preis Freunde gewinnen will. Aber sie musste ja nicht, sagte sie sich. Sie wollte sehen, ob es das Bessere, von dem sie eine so deutliche Vorstellung hatte, wirklich gab.
Sandra nahm sich Kaffee und setzte sich. Der Pausenraum machte untertags einen schlampigen Eindruck, am Abend kam die Putzfrau, warf den Müll weg und wischte eilig über die Flächen. Auch mit den zwei Pflanzen bekam der Raum nie etwas Heimeliges, und die Vase auf dem roten Tischdeckchen war meistens leer.
Sandra fragte nach dem Wochenende, was sie oft tat. Ihre Wochenenden waren gefüllt mit Familienaktivitäten oder Freundinnen, mit denen sie abends ausging. Laura konnte von Wochenenden nicht im Geringsten etwas Ähnliches vorweisen. Sie hätte von der Firmenfeier erzählen können, aber das war ihr zu langweilig. Also sagte sie, sie habe gemalt.
„Verkaufst du die Bilder dann?“
Die Frage irritierte Laura. Sie rief in ihr das Gefühl hervor, sie müsse das Malen rechtfertigen, als hätte es nur dann einen Sinn, wenn es etwas einbrachte. Die Freude am Malen erschien anderen oft als nicht ausreichend.
Aber am Arbeitsplatz wollte sie die angenehme Atmosphäre mit den Kolleginnen beibehalten, und sie trug dazu bei, indem sie beim lockeren Plaudern blieb und etwas Negatives gar nicht erst aufkommen ließ.
So zuckte sie mit den Schultern und sagte, das sei ihr nicht wichtig.
„Du kannst die Bilder ja daheim aufhängen“, sagte Sandra, „deinem Freund gefallen sie bestimmt.“
Es war wohl ermutigend gemeint, aber Laura störte die Bemerkung, denn was hatte eine Beziehung damit zu tun, ob jemandem Bilder gefielen? Es klang, als mochte der Partner automatisch alles, was man tat.
Sie erwiderte nichts mehr, und ihre Pause war zu Ende. Sie ging hinaus zu ihrem Platz, wo sofort jemand zu ihr kam, um einen Stapel Bücher auszuleihen. Die Routine der Arbeit ließ Raum für Gedanken. War sie denn auf Verkaufen aus? Vielleicht war es so am schönsten, das Malen für sich selbst. Brauchte sie die Anerkennung anderer? Manchmal schlich sich eine Fantasie herein, in der sie öffentlich ausstellte und viele Menschen kamen, um ihre Bilder zu sehen. Aber eine Fantasie bedeutete nicht unbedingt einen Wunsch für die Wirklichkeit.
„Das nehme ich doch nicht“, sagte der Mann auf der anderen Seite des Schalters mit Nachdruck, und Laura verstand, dass er den Satz wiederholt hatte. Sie lächelte entschuldigend, legte das Buch beiseite und schaute auf die Wanduhr, bevor sie den nächsten Stapel entgegennahm.

Als sie später vor der Bücherei stand, nahm sie die Postkarten aus der Tasche. Sie setzte sich damit auf eine Bank im winzigen Park gegenüber, sah sie immer wieder durch, las immer wieder die Textzeilen, ohne sich zu etwas entschließen zu können. Auf einmal waren ihr all diese Namen fremd. Sogar Briefmarken hatte sie schon aufgeklebt, so sicher war sie in ihrem Vorhaben gewesen. Etwas verändern, dachte sie. Sie warf die Karten in den Briefkasten, an dem sie zwei Straßen weiter vorbeikam.

2

Laura verließ das Haus mit der Nummer vierzig mit dem Zeichenblock unter dem Arm und schlug den Weg nachhause ein. Sie musste ein Stück durch die Innenstadt, vorbei an ein paar Läden, vorbei am Café Niedermeier, wo sie Stefanie und Sofia ums Eck biegen und auf sich zugehen sah. Sie blieben stehen. Sie komme vom Malen, sagte Laura. Ob sie mitwolle ins Café, fragte Stefanie, und Sofias Gesicht schien sich zu verschließen. Als sie hinter den beiden ins Lokal ging, skizzierte sie in der Vorstellung Sofias Pferdeschwanz, der bauschig zusammengebunden war.
Die meiste Zeit redete Sofia mit Stefanie. Wenn Laura etwas sagte, sah Sofia sie gleichgültig an, um dann etwas zu erwidern, das Laura nicht zustimmte. Eine Kühle ging von ihr aus, die Laura in diesem Maß bisher noch nicht aufgefallen war. Als die Rede auf eine Arbeitskollegin von Sofia kam, die sie eigenartig fand, entschuldigte sich Laura auf die Toilette und stand minutenlang unschlüssig vor dem Waschbecken. Sie überlegte, sich vorzeitig zu verabschieden, und verwarf den Gedanken wieder. Bei ihrer Rückkehr ging es immer noch um Sofias Büro, und Laura betrachtete die anderen Gäste, wie sie redeten und tranken und darin genauso aussahen wie Sofia und Stefanie. Manchmal hörte sie einzelne Sätze oder abgerissene Satzteile, während der Gesprächssinn im Gewirr der Stimmen unterging. Es war ihr nicht leid um die paar Sätze, die sie am eigenen Tisch verpasst hatte.
Sie wusste, dass Tobias sich freuen würde über den Kaffeehausbesuch mit Stefanie, aber sie wollte keine Freude heucheln, schon gar nicht ihm gegenüber.
„Geht so“, sagte sie auf seine Frage hin, wie es war, und ging zum Schreibtisch, ohne die Tür hinter sich zu schließen, und die ganze Zeit klang die Unwahrheit der Worte wie ein Vorwurf in ihr nach. Sie wollte Tobias sagen, dass Sofia sie lieber nicht dabeigehabt hätte, aber vielleicht würde er ihr nicht glauben, und sie wäre ebenso allein mit ihrer Wahrnehmung wie jetzt.
Erst nach dem Abendessen rückte sie damit heraus. Seine Reaktion war ähnlich dazu, wie sie es sich vorgestellt hatte, etwas gleichgültiger vielleicht. Er schenkte dem Ausdruck anderer, dem, was nicht ausgesprochen wurde, aber beobachtbar war, nicht dieselbe Aufmerksamkeit wie sie.
Laura stand vom Tisch auf, räumte ihn gemeinsam mit Tobias ab und das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler, klappte das Notebook auf und fand die erste Antwort auf die fortgeschickten Postkarten.

Maria hatte „Danke für die schöne Karte!“ in die Betreffzeile ihres Mails geschrieben. Es gehe ihr ausgezeichnet, schrieb sie. Sie sei gerade mit ihrer Familie umgezogen, unterrichte nach wie vor halbtags und finde auch Zeit zum Malen. Sie habe sich sehr über die Karte gefreut und erinnere sich noch gern an den Kurs zurück.
Neben der Freude, dass jemand so schnell reagiert hatte, war Laura auch ein bisschen enttäuscht über die Nachricht. Marias Worte klangen nicht so, als wollte sie einen längeren persönlichen Austausch. Dennoch überlegte Laura, was sie antworten könnte. Die Arbeit in der Bücherei fand sie nicht interessant genug. Wenn sie vom Malen schrieb, gab es vielleicht Anknüpfungspunkte für die andere, und es könnte doch ein längerer Kontakt daraus werden.
Zwischen ihr und Maria lagen ohnehin zwei Bundesländer. Eine Teilnehmerin der Malwoche wohnte im selben, zwei weitere im nächsten Bundesland, nicht allzu weit entfernt. Seit sie die Karten abgeschickt hatte, wartete sie ein bisschen mehr auf deren Antworten.
Sie schrieb Maria von den Stillleben, die sie gemalt hatte, von Birnen und Blumenstöcken. Sie kratzte zusammen, was sie erzählen konnte, und war nicht zufrieden mit der Länge der Antwort. So, dachte sie, würde kein Kontakt zustandekommen. Natürlich wusste sie, dass Beziehungen meistens an der Oberfläche begannen und erst mit der Zeit persönlicher wurden. Und Maria war die erste, die geschrieben hatte. Vielleicht, dachte sie optimistisch, schrieben andere mehr. Sie schickte die Antwort weg.

Die nächste Antwort kam zwei Tage später, ebenfalls per E-Mail. Sabines Text war fünfmal so lang wie der von Maria. Laura fing an zu lesen und erfuhr so Einiges über Sabines Trennung von ihrem Freund, die vor Kurzem stattgefunden hatte. Sie hatte Sabine als redselig in Erinnerung, nur so persönlich war sie in den damaligen Unterhaltungen nicht geworden.
Laura wusste nicht so recht, was sie antworten sollte. Etwas Mitfühlendes, dazu augenzwinkernde Sätze wie „wir Frauen haben es nicht leicht mit den Männern“. Nein, dafür klang die Schilderung zu ernst. Etwas raten konnte sie ihr auch nicht. Sie hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen mit diesem E-Mail. Es schien dazu aufzufordern.
Schließlich drückte sie ihr Bedauern über die Trennung vom ihr unbekannten Freund aus und wusste dann nicht, ob und was sie jetzt noch über sich erzählen könnte. Sie schrieb dasselbe, was sie Maria schon geschrieben hatte. Sabine wohnte im nächsten Bundesland, und vielleicht war ihre Offenheit ja ein gutes Zeichen.

Dann legte Tobias eines Tages einen Brief auf ihren Schreibtisch.
„Post für dich“, sagte er und ließ sie allein.
Sie öffnete den Brief mit der Schere und faltete ihn auseinander.

Hallo Laura, las sie.

erst einmal danke für die Karte, gut ausgewählt als Erinnerung an unsere „Sommerwoche“, wie du sie nennst. Ich habe in meiner Sammlung gekramt und lege ein paar Nacktbadende von Heckel bei.
Ich war überrascht über die Karte, auch erfreut, und als alter Sozialpädagoge habe ich mich gefragt, was möchte sie? Hat sie allen geschrieben oder nur den sympathischen Männern?
Letzteres wäre etwas unpraktisch, bin ich doch gerade mit Nina, meiner Freundin, in eine gemeinsame Wohnung gezogen.
Deiner Karte entnehme ich die Frage nach meinem künstlerischen Schaffen. Die Kunst macht bei mir nicht viel, wobei meine Ambitionen da ohnehin nicht so groß sind. Ich habe allerdings etwas im Sinn. Ich nenne es das „Bild meines Lebens“, obwohl es noch nicht existiert. Vielleicht kommt die Zeit, zu der ich damit beginnen werde.
Jetzt kommt mir der Gedanke, vielleicht hast du allen geschrieben und hattest nur Bestimmte im Sinn, auf deren Antwort du hoffst. Und denkst jetzt, oh nein, nicht er.
Vielleicht ist es nicht so und ich höre wieder von dir.

Viele Grüße,
Daniel

Sie wollte sich Zeit nehmen für die Antwort. Sie hatte Daniel als ruhig, freundlich und ein wenig ironisch in Erinnerung, eigen vielleicht, introvertiert. Sie las den Brief noch ein paar Mal und fühlte sich vom Persönlichen darin berührt, als hätte da jemand das Gefühl, sich anvertrauen zu können. Oder vielleicht hatte sie dieses Gefühl und glaubte es in seinen Zeilen zu finden.
„Ich habe den Leuten der Kunstwoche geschrieben“, sagte sie, als sie Tobias im Wohnzimmer vorfand.
„Das hast du gar nicht erzählt“, sagte er.
„Drei Antworten sind schon gekommen“, sagte sie. Der Brief von Daniel war schön, aber er wohnte in der fernen Hauptstadt und würde sich wohl kaum wöchentlich zu einem Austausch zwischen Künstlern treffen.

Sie ging am Wochenende mit Tobias spazieren, las ein wenig, sie plauderten. Zu Wochenbeginn musste sie in die Arbeit, drei Tage lang. Am freien Donnerstag setzte sie sich an den Schreibtisch, um Daniel zu antworten.

Hallo Daniel,

danke für deinen Brief und die Karte. Ich habe tatsächlich allen geschrieben, ich habe mich zwar wunderbar unterhalten damals, aber niemanden näher kennengelernt, sodass ich eine Wahl treffen könnte. Den Gedanken dazu hatte ich auf der Jubiläumsfeier der Firma meines Freundes. Ich hatte das Gefühl, ich gehöre nicht dazu, bei keinem Anlass vorher habe ich das so deutlich wahrgenommen. Ich war umringt von Menschen und habe mich gleichzeitig allein gefühlt.
Und dann hat sich einer, Paul, über mein Malen lustig gemacht. „Du glaubst hoffentlich nicht“, hat er gesagt, „dass Leute deine Bilder kaufen. Wenn sich jemand Kunst an die Wand hängen will, dann nimmt er doch professionelle Maler.“
Ich wollte ihm sagen, es geht darum, dass man es tut, nicht um zu verkaufen, sondern weil man es aus dem Inneren heraus tun will. Wenn man dann etwas verkaufen kann, ist es schön, wenn nicht, hört man deshalb nicht auf mit dem, was man tun will. Ich wollte ihm das alles sagen, aber es standen mehrere Leute zusammen, und dann sagte jemand anderer etwas und noch jemand, und meine Verteidigung jeder künstlerischen Tätigkeit blieb ungesagt.
Nur Tobias, meinem Freund, habe ich all das gesagt, und jetzt dir. Auf der Feier, als ich mich so unpassend gefühlt habe, musste ich an die Sommerwoche denken und wie wohl ich mich dort gefühlt habe, und dann habe ich mir gewünscht, daheim zu sein und zu malen, und dann hatte ich den Gedanken, euch zu schreiben, um vielleicht Menschen zu finden, die zu mir passen.
Ich hatte noch einen Gedanken auf dieser Feier: Tobias bekommt, was er braucht, er hat ein zu sich passendes Leben. Er hat eine Arbeit, in der er aufsteigen kann, er lebt mit seiner Freundin in einer netten Wohnung, er hat die für sich richtigen Freunde. Ich sehe bei ihm keinen Mangel.
Du siehst also, du hörst wieder von mir, und deine diesbezüglichen Befürchtungen waren umsonst. Das „Bild meines Lebens“ klingt interessant, ich hoffe, ich darf es irgendwann einmal sehen.

Viele liebe Grüße,
Laura

3

Laura sah die beiden durch die Tür hereinkommen, bepackt mit ihren Umhängetaschen und Tragetaschen aus Geschäften. Sie war überrascht, dass sie in die Bücherei kamen, nachdem sie offensichtlich gemeinsam einkaufen waren. Stefanie begrüßte sie strahlend und sagte, sie sehe sich einmal um. Sofia blieb im Eingangsbereich stehen. Erst als Laura sie fragte, ob sie etwas Bestimmtes suche, sagte Sofia: „Lyrik vielleicht, aber nicht aus Europa. Übersetzt, aber von weiter weg.“
Laura ging zwischen den Reihen der Regale durch und griff Bände heraus, zeitgenössische Autoren aus Chile und Argentinien, die sie erst seit Kurzem hatten. Sie reichte sie Sofia, die darin blätterte und „danke“ sagte, ohne aufzusehen.
Stefanie lieh sich zwei Romane aus.
„Es war meine Idee, hier vorbeizuschauen“, sagte sie. „Normalerweise kaufe ich Bücher, aber wenn ich sie gelesen habe, stehen sie meistens herum. Also warum nicht einmal ausleihen.“
Laura lächelte höflich und stellte erst Stefanie, dann Sofia einen Büchereiausweis aus.

Am Freitag rief Stefanie sie an. Sie fahre jetzt los, um eine Vitrine zu kaufen, ob Laura nicht mitwolle. Auch wenn sie vermutlich Sofia gefragt hätte, wenn diese nicht arbeiten müsste, freute es Laura, zu einer Unternehmung zu zweit eingeladen zu werden. Sie hatte sich noch nie mit Stefanie allein getroffen, und nur Gespräche zu zweit konnten wirklich persönlich werden. Sie wusste das noch gut von Hedi, die jetzt in Australien mit ihrem Mann ein Restaurant betrieb und vermutlich keine Zeit mehr hatte, an die alte Heimat und die alten Freunde zu denken.
Das Möbelhaus, in dem sie anfingen, war belebt um diese Zeit. Stefanie redete davon, wie die Vitrine aussehen und wo sie ihren Platz haben sollte, anstelle des alten Regals, das Markus aus Studientagen mitgebracht hatte und dessen Anblick sie jetzt nicht mehr ertragen wolle. Sie lachte. Sie begutachtete die angebotenen Stücke und entschied schnell, dass sie nicht waren, was sie wollte. Sie nannte das Möbelhaus, das ihr als nächstes vorschwebte. Laura ging neben Stefanie her, vorbei an Bettsofas, Schreibtischen, Sitzgruppen, hörte zu und überlegte zwischendurch, ob die Wohnung ein Zubehör brauchte, aber es fiel ihr nichts ein. Im dritten Geschäft wurde Stefanie fündig und vereinbarte einen Termin für die Lieferung.
Sie brachte sie mit dem Auto nachhause. Bevor Laura ausstieg, überreichte Stefanie ihr ein Kuvert und sagte: „eine Einladung für euch“. Laura zog ein gefaltetes Papier aus dem Umschlag und las das Datum der Einladung „zu einem chinesischen Essen“.
„Nur sechs Leute“, sagte Stefanie. „Wir vier und Sofia mit Paul.“

Die nächste Antwort von Daniel kam am Tag der Einladung bei Stefanie und Markus. Er hatte wieder einen Brief geschrieben.

Hallo Laura,

so war das also mit deiner Idee, den Teilnehmern von damals zu schreiben. Ich kann es mir ungefähr vorstellen, wie du dich auf dem Fest gefühlt hast, obwohl ich selber praktisch nie auf größeren Feiern bin, außer auf der Weihnachtsfeier der Einrichtung, in der ich arbeite, aber die ist doch sehr viel beschaulicher als euer Jubiläum es vermutlich war.
Hat denn sonst noch jemand geantwortet? Ich habe Katrin einmal in einem Lokal hier getroffen, da haben wir kurz geplaudert, was aufgrund des Lärmpegels nicht einfach war. Normalerweise gehe ich dort gar nicht hin, aber es war an dem Abend ein Klassentreffen, und einige wollten nach dem Essen noch woanders hin, und ich, gutmütig und sozial, bin mitgegangen.
Übrigens habe ich bewusst wieder einen Brief geschrieben und kein E-Mail. Briefe bleiben, wenn man sie nicht wegwirft, Mails löscht man viel eher, wenn der Speicherplatz überzuquellen droht. Briefe kann ich in einer Schachtel aufbewahren und von dort hervorkramen. Ich mag Briefe.
Dass ich das „Bild meines Lebens“ gleich erwähnt habe, macht mir jetzt ein leichtes Unbehagen, weil es wirklich nicht mehr als eine Idee ist und weit davon entfernt, begonnen zu werden. Vergiss das am besten wieder.
Einen richtigen Mangel an Freunden empfinde ich, wenn ich so hinspüre, nicht, obwohl ich nicht viele Freunde habe. Genaugenommen nur einen wirklich guten, und Nina, die meine Freundin und mein bester Freund ist. Gegen eine Brieffreundschaft habe ich trotzdem nichts einzuwenden. Gegen ein Treffen übrigens auch nicht, auch wenn dafür eine gewisse Distanz überwunden werden muss.

Viele Grüße,
Daniel

Sie las den Brief gleich ein zweites Mal und wünschte sich, Daniel würde mitkommen am Abend zu Markus und Stefanie, vielleicht auch mit Nina, die sie nicht kannte. Es wären ihre Freunde und nicht die von Tobias, von denen eine zumindest sie nicht mochte, es wäre eine Art emotionaler Schutz gegenüber Leuten, die nichts mit ihr anzufangen wussten und belächelten, was sie tat. Stefanie war nett zu ihr, aber gemeinsam hatten sie nicht viel. Stefanie genoss, so wirkte es, dieses Gesellschaftsleben, ohne es oberflächlich zu finden.
Sie legte den Brief zusammengefaltet in die oberste Schublade. Sie würde ihn erst nach der Einladung beantworten, dann gab es etwas zu erzählen.

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