Individuation: das Löwe-Zeichen

C. G. Jung, der die Sonne im Löwen hatte, prägte den Begriff der Individuation, worunter der Prozess verstanden wird, durch den ein Mensch zum Einzelwesen, zum einzigartigen, eigenen Selbst wird, was mit Bewusstwerdung verbunden ist. Diesen Prozess hat Jung auch selbst durchlebt. Er gab sich nicht damit zufrieden, Freuds erwählter Erbe zu sein, sondern trennte sich von ihm, um den Weg in die Tiefen des eigenen Unbewussten zu gehen, um seine eigenen Erfahrungen mit sich selbst und der Seele zu machen.
Wir alle haben die Sonne im Horoskop, wir alle sind aufgefordert, den Weg der Individuation zu gehen, zu dem Menschen zu werden, der wir im Keim von Anfang an sind. Für den löwebetonten Menschen ist das jedoch ein zentrales Thema, denn der Herrscher dieses Feuerzeichens ist die Sonne. Im Heiligtum des Sonnengottes Apollo in Delphi gab es die in Stein gemeißelte Inschrift: „Mensch, erkenne dich selbst!“
Am Anfang seines Weges glaubt der Löwemensch unter Umständen, schon am Ziel angekommen zu sein, seinen hohen Ansprüchen an sich selbst schon zu genügen. Wenn er dann schon ein Stück seines Reifungsweges gegangen ist, weiß er, dass er sich erst zu jemandem mit Autorität und Selbstsicherheit hin entwickeln muss, dass er für seine vorhandenen Talente arbeiten und sich anstrengen muss. Er hat den inneren Anspruch, eine reife, autonome Persönlichkeit zu sein, macht aber anfangs oft die Erfahrung, dass er da, wo er seinem Gefühl nach stehen sollte, noch nicht ist. Er muss den Erfahrungsweg beschreiten, den es für seinen Reifungsprozess braucht.

Der Löwe braucht es, sich als etwas Besonderes zu fühlen, was als sein zentraler Abwehrmechanismus gegen seine Angst vor der Bedeutungslosigkeit, der Gewöhnlichkeit, der Sterblichkeit verstanden werden kann. Die Astrologin und Jungsche Analytikerin Liz Greene betrachtet die für jedes Zeichen und jedes Planetenprinzip charakteristischen Abwehrmechanismen als etwas Natürliches und Gesundes, denn jedes Zeichen und jedes Prinzip hat vor etwas Angst, jedem Zeichen ist etwas besonders wichtig, weshalb es dann verteidigt werden muss. Der Löwe hat das Bedürfnis, einzigartig zu sein, sich selbst als jemanden mit einer besonderen Bestimmung zu erleben, wobei es ihm nicht – wie etwa dem Widder – darum geht, mit anderen zu wetteifern. Der Dialog des Löwen findet eigentlich zwischen ihm selbst und Gott statt. Er möchte das Gefühl haben, auserwählt zu sein, ein gottgegebenes, individuelles Schicksal zu haben. Damit wehrt er sich gegen die Auslöschung, die Sterblichkeit.
Problematisch kann es werden, wenn der Löwemensch das Bedürfnis, das eigene Leben zu einem Mittel göttlicher Absichten zu machen, aufgrund diverser Schwierigkeiten nicht erfüllen kann, wenn die Kluft zwischen äußerem Leben und innerem Traum zu groß wird. Dann wird er depressiv, verherrlicht sich selbst oder braucht ein bewunderndes Publikum, worin sich ein mangelndes Gefühl der eigenen Besonderheit zeigen kann. Wenn aber die innere Verbindung vorhanden ist, braucht er zur Selbstbestätigung keine anderen Menschen und kann seine Kreativität entfalten.

Der Löwe ist ein leidenschaftliches Zeichen. Im Mythos wird Herakles beauftragt, den nemeischen Löwen zu töten, was ihm nach einem Kampf auch gelingt. Danach hängt er sich sein Fell um – ein Bild dafür, dass er nicht nur Herr über seine animalischen Instinkte geworden ist, sondern auch die Kraft und Unbesiegbarkeit des Löwen erhält. Eine zentrale Frage für den Löwemenschen ist, wie er seine Leidenschaften zähmen kann, ohne dadurch seine Vitalität und Kreativität zu verlieren. Er muss seine zivilisierte Seite mit seiner animalischen Natur versöhnen, sinnvoll mit seiner Wut und seinen Leidenschaften umgehen. Sein Ziel ist ein intensiv gelebtes Leben, während er gleichzeitig in sich ruht, weil er sich nicht von Leidenschaften und Emotionen überwältigen lässt.

Die Sonne, die im Zeichen Löwe herrscht, hat als Ziel den Selbstausdruck, die Selbstverwirklichung und die Bildung einer einzigartigen Ich-Identität. Sie vermittelt das Gefühl individueller Bedeutung und Bestimmung, eines Lebenssinns, und sie möchte kreativ etwas erschaffen, was ihrer Stellung im Zeichen, Haus und in ihren Aspekten zu anderen Planeten entspricht. Das funktioniert jedoch nicht von allein. So wie der Sonnengott Apollo mit der Schlange Python kämpfen muss, muss man immer wieder darum kämpfen, die Sonne zum Scheinen zu bringen. Wenn etwa im Familienhintergrund Individualität kein anerkannter Wert war oder man massiven Neid anderer erlebt hat, kann es sein, dass man die eigene Sonne versteckt. Man lässt dann sein Licht nicht leuchten, um zu vermeiden, beneidet zu werden. Und schließlich heißt die Sonne zum Scheinen zu bringen nicht, dass das, was man anbietet, auch belohnt wird. Aber während man seine Sonne auslebt, wird man sich erfüllt und lebendig fühlen.

Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass der Löwe – laut Liz Greene – nicht narzisstisch ist. Die psychoanalytische Theorie führt Narzissmus auf unzureichende Spiegelung durch Bezugspersonen in der frühen Kindheit zurück. Bei der Ich-Bezogenheit des Löwen geht es aber um eine natürliche Veranlagung, die sich im Rahmen seines Entwicklungsprozesses zeigt, was nichts zu tun hat mit einer frühkindlichen Störung. Dagegen gibt es im Horoskop bestimmte Konstellationen, die darauf hinweisen, dass man der eigenen Mutter als Spiegel gedient hat, statt dass die Mutter einen ausreichend gespiegelt hat. Dazu gehören Kombinationen wie Sonne oder Venus im zehnten Haus mit Mond im Aspekt zu Neptun oder Neptun in 10 mit Mond/Uranus oder Mond/Saturn oder Mond/Chiron in 12 oder Mond im zehnten Haus mit problematischen Aspekten zu äußeren Planeten. Dabei ist das Umfeld wesentlich daran beteiligt, ob eine Person mit solchen Konstellationen eine narzisstische Störung entwickelt. Im positiven Fall können solche Muster eine große Sensibilität für die Bedürfnisse anderer Menschen beschreiben.

Begriffe zum Löwe-Prinzip:
Vitalität, Optimismus, Wärme, feurige Emotionalität, Dramatik, Prunk, Imponiergehabe, Selbstdarstellung, Egozentrik, Dominanz, Autorität, Macht, Risikofreude, Ausstrahlung, Intuition, Kreativität, Erotik, Spiel, Reifung, Individualität.

Anmerkung:
Ich beschreibe hier ein Urprinzip in seiner Reinform, die charakteristischen Themen eines Zeichens, wie sie für Deutungen herangezogen werden. Für eine individuelle Deutung muss aber natürlich das gesamte Geburtshoroskop betrachtet werden.

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